Anstatt Bildern

Von Laura Henseler für Sofie Bird Møller

Sofie Bird Møller behandelt in ihren Arbeiten existierende Bilder und entlädt diese ihrer
ursprünglich beabsichtigten Narration oder Funktion. Bei den Bildern, die die Künstlerin
auswählt, handelt es sich um echte Stahlstiche oder Werbeanzeigen und Modestrecken.
So unterschiedlich das Bildmaterial ist, so differenziert sind auch die Methoden, welche
die Umformulierung der dargestellten Information herbeiführen und endlich in ästhetisch
und stilistisch voneinander getrennten Werkgruppen resultieren: Den Arbeiten der Serie
Bearbeitete Stiche werden – einer Retusche gleich – einzelne Bildelemente entnommen. Die
Zeitschriftenseiten, welche Grundlage für Bird Møllers Interferenzen sind, weisen deutliche
Übermalungen durch dicke Farbschlieren aus konzentrierter Pinselführung auf. In den
Serien Interventionen und Interaktionen wird das Prinzip der Übermalungen nicht nur auf
Grund der extremen Größe der Vorlagen (Plakatwände und Citylightposter) und dem gesteigerten
körperlichen Einsatz der Künstlerin zum Farbauftrag intensiviert, sondern auch innerhalb
der Modi der Transformation des ursprünglich Abgebildeten.
Und doch handeln alle diese Serien von Vorfällen auf der Bildoberfläche. Die durch den Eingriff
der Künstlerin vollzogenen Verschiebungen, Umformulierungen, ja sogar Auslöschungen
ursprünglicher Information entfernen das Original aus seinem Kontext und lassen ein Bild
au lieu entstehen.
Die klassischen Stiche zeigen Porträts oder gesellschaftliche Situationen, architektonische
Meisterwerke und urbane Szenerien. Mit Tipp-Ex werden zunächst einzelne Bildelemente
(eine Tür, ein Möbel etc.) bis hin zum eigentlichen Bildinhalt (die porträtierte Person, das
Hauptaugenmerk eines Bauwerks etc.) völlig übermalt. In einem zweiten Schritt wird der
Bildhintergrund in zarten Bleistiftlinien auf die übermalte Stelle übertragen bzw. weitergeführt.
Einzig der minimale Farbunterschied oder ein leichter Schimmer auf der nun veränder
ten Bildoberfläche lassen die Schemen des Verschwundenen erkennen. Indem gezielt nur
einzelne Elemente (nur die Person oder nur der Gegenstand), nicht aber die Schatten, die sie
werfen, entfernt werden, bezeugen die Spuren der Auslöschung ihre geisterhafte Anwesenheit.
Die Abwesenheit wird zu einem Wiederkehrenden – einem immerwährenden Anwesenden.
Die Bedingungen des Barthes’schen punctum1, vor allem das der Zeit – die Erkenntnis: „Es
ist so gewesen“2 – realisiert sich in der Phantomisierung der Stahlstiche. Ähnlich den ersten
Fotografien, deren lange Belichtungszeiten unabsichtlich ebenfalls den zeitlichen Verlauf
der Aufnahme mit abbildeten, konservieren Bird Møllers Bearbeitete Stiche den Prozess der
Auslöschung und veranschaulichen den Moment einer vergangenen Anwesenheit: Der Schatten
auf dem Boden bleibt, obwohl derjenige, der ihn warf, nur noch als Geist zu sehen ist.3
Damit entstehen Historizität und Chronologie: Der Mensch ist da, er stirbt, der Ort bleibt
(die Porträtierten verschwinden, ihre Umgebung bleibt unverändert erhalten).
„Ich lese gleichzeitig: das wird sein und das ist gewesen; mit Schrecken gewahre ich eine
vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist. […] Ich erschauere wie der Psychotiker
bei Winnicott vor einer Katastrophe, die bereits stattgefunden hat.“4
Und gleichzeitig bedeuten die erkennbaren Retuschen – ihre seltsame Ambivalenz von Verschwinden
und Wiederkehr – ein Trauma, im Sinne einer verpassten Begegnung mit der
Realität, wie Lacan sie formulierte. So wie die Entdeckung der Retusche uns wie ein Pfeil trifft
und die Projektion der Darstellung unterbricht, so erleiden wir gleichzeitig einen Verlust,
der unfassbar und unvorstellbar bleibt. Das wiederkehrende Gewesene begegnet uns als
Fetisch: Wir scheitern am Versuch, es vor unserem inneren Auge zu reproduzieren, und sind
gezwungen, seine Abwesenheit zu wiederholen.5
Wenn dann, wie in den Bearbeiteten Stichen der letzten Zeit, die Stiche zu Collagen erweitert
werden – z.B. durch die Hinzufügung ausgeschnittener Frauenarme von Zeitschriftenseiten –,
geschieht, was Max Ernst einst prophezeite: Der Funke der Poesie springt über, 6 wenn plötzlich
unsere Realität mit der des Bildes zusammentrifft. Die Frauenarme berühren, was wir
nicht zu berühren vermögen (aber bei jeder Betrachtung eines Bildes ersehnen). – Weil die
im Stich dargestellten Handlungen (einschließlich der Bearbeitung durch die Künstlerin)
abgeschlossen sind; weil Bilder Räume nur andeuten, aber niemals begehbare Räume sein
können; weil Bilder fremde Realitäten sind.
Aber auch diese Berührung bleibt Fantasie und Fetisch, denn es sind nicht wir, die den Bildraum
berühren. Bird Møller unterbricht die Projektion der Darstellung nur, um ihr direkt
eine neue Bildrealität bzw. -illusion zuzusetzen. – Das Bild anstatt.
Die farbigen Übermalungen der Werbeanzeigen und Modestrecken aus Zeitschriften sind
ebenfalls Träger einer veränderten Information. Anders jedoch als die retuschierten Stiche
schafft die Auslöschung in den Interferenzen (und in den Interventionen) nicht die Grundlage
eines Neuen, sondern wird selbst zum Bildgegenstand und -inhalt. An der Stelle, an der
vorher ein Produkt samt dazugehörigem Lebensgefühl beworben wurde, galvanisieren und
verschmelzen nun alle im Bild vorkommenden Farbtöne zu Knäueln, Schlieren und ergonomischen
Abstraktionen. (Retuschen finden sich nur vereinzelt in der vorsichtigen Übermalung
von Firmenlogos etc.) Jede Information über das hier vorher beworbene Produkt wird über
die ästhetische Formfindung der Abstraktion substituiert. Diesen Prozess muss man sich
als einen sehr langsamen, konzentrierten vorstellen, der auf die asiatische Tuschemalerei
rekurriert und weniger mit der Spontaneität des abstrakten Expressionismus gemein hat.
So wird eine Autowerbung, die das Fahrzeug auf offener Straße (häufig mit unberührter
Natur zu beiden Seiten) zeigt, zu einem Landschaftsbild, in dessen Mitte sich nun – gleich
einem Strudel – die Hauptfarben der Abbildung versammeln und aufbäumen.
Mediale Bilder, zum Beispiel die der Werbeindustrie, verbildlichen Ideale und Sehnsüchte
und suggerieren deren Erfüllung durch Konsum. Diesen Bildern begegnet die Künstlerin mit
Bildern, die diese Konsumwelt deuten und beurteilen. Die Abstraktion dient als ästhetische
Negation der Darstellung: Die dicken Farbspuren werden, wie auf einer Farbpalette, direkt
auf dem Bildträger aufgetragen und dort vermischt, bis sie zu eigenen Formen werden.
Indem seine Referenzen ausgelöscht werden, wird das (Werbe-)Bild endlich rückgeführt zu
einem Bild per se.
Und doch gehen beide Bereiche, das mediale Bild und seine Auslöschung durch die Abstraktion,
trotz ihrer farblichen Verwandtschaft niemals ineinander über, sondern prallen auf -
einander und demonstrieren stetig ihren Konflikt – auch, indem hier die Malerei auf ihren
einstigen vermeidlichen Vernichter: die Fotografie bzw. das reproduzierbare Bild, trifft.
Darüber hinaus verwandelt Bird Møller den zweidimensionalen Raum des Printmediums
durch den dicken Farbauftrag in einen dreidimensionalen. Das einstige rein visuelle Erlebnis
wird um eine haptische Qualität erweitert.
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„Dinge sich räumlich und menschlich ,näherzubringen‘ ist ein genau so leidenschaftliches
Anliegen der gegenwärtigen Massen, wie es ihre Tendenz einer Überwindung
des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist.“7
Der Konflikt, der sich in dem Zusammentreffen von vorgefundenem Bild und dem Farbauftrag
durch die Künstlerin abspielt, wird in der Serie der Interaktionen maximal gesteigert. Hier
benutzt Bird Møller ihren eigenen Körper zum Farbauftrag. Die Auslöschung der Darstellung
geschieht tatsächlich von Körper zu Körper: innerhalb der Größenordnung der Arbeiten und
auch, indem die Künstlerin der einst abgebildeten Person in derselben Pose begegnet, sie
berührt, verdeckt und schließlich durch ihren eigenen Abdruck auf der Bildoberfläche ersetzt.
Was bleibt, ist ein Tatort; die Spuren dessen, was wir tagtäglich selbst betreiben, indem wir
uns gedanklich in alle medial suggerierten Bilderwelten hineinversetzen (uns z.B. anstelle
des Models setzen).
Wenn wir Medienbilder als unendlich reproduzierbare und sich wiederholende Bilder verstehen
– gleiches gilt für den Druck und den Stich –, so sind diese nach Benjamin „von den
wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet“8 und entziehen sich dem Bereich der
Echtheit, „dem Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Ort, an dem es
sich befindet“7. In den Werkgruppen von Sofie Bird Møller erzeugt die Umgestaltung der
beabsichtigten Information durch die Übermalungen eine Umkehr dieser Vernichtung der
Aura, ja geradezu deren Kurierung. Die Werbeanzeige und auch der Stich werden wieder zu
einem einmaligen Vorkommnis – zum Kunstwerk.