Hinter den Spiegeln
Von Bärbel Schäfer für Annekathrin Norrmann
DER ZIPFERLAKE
Verdaustig wars, und glasse Wieben Rotterten gorkicht im Gemank; Gar elump war der Pluckerwank, Und die gabben Schweisel frieben.
»Hab acht vorm Zipferlak, mein Kind!
Sein Maul ist beiß, sein Griff ist bohr!
Vorm Fliegelnagel sieh dich vor,
Dem mampfen Schnatterrind!«
Er zückt' sein scharfgebifftes Schwert,
Den Feind zu futzen ohne Saum,
Und lehnt' sich an den Dudelbaum
Und stand da lang in sich gekehrt,
In sich gekeimt, so stand er hier: Da kam verschnoff der Zipferlak Mit Flammenlefze angewackt Und gurgt' in seiner Gier.
Mit eins! und zwei! und bis aufs Bein!
Die biffe Klinge ritscheropf!
Trennt er vom Hals den toten Kopf,
Und wiehernd sprengt er heim.
»Vom Zipferlak hast uns befreit?
Komm an mein Herz, aromer Sohn!
O blumer Tag! O schlusse Fron!
« So kröpfte er vor Freud.
Verdaustig wars, und glasse Wieben
rotterten gorkicht im Gemank;
Gar elump war der Pluckerwank,
Und die gabben Schweisel frieben.
“Jabberwocky” aus: "Through The Looking Glass" von Lewis Carroll, 1871
Übersetzung von Christian Enzensberger, Insel Verlag, 1963
Annekathrin Norrmann
„Hinter den Spiegeln“
Hinter der sichtbaren Wirklichkeit verbirgt sich etwas, das man dort nie vermutet hätte. Aus der Verrätselung ergibt sich eine verblüffende Erkenntnis, die den Blick auf neue Zusammenhänge lenkt.
Die Künstlerin Annekathrin Norrmann kalkuliert mit diesen Überlegungen. Sie sucht, beobachtet und verändert. Sie spielt mit der Ambivalenz von Gegenständen und dem Verschleiern von Gegebenheiten. Sie fordert auf, hinter die Oberfläche als dem offenkundig Sichtbaren zu blicken.
Mit ihren Wandobjekten und Installationen schafft sie Bildräume, die sich stets auf den Ort beziehen, an dem sie sich befinden, die körperhaft und gegenwärtig sind. Dennoch sind diese Bildräume kaum greifbar. Mit farbig bearbeiteten Plexiglaskästen, Spiegeln, Collagen, Fundstücken und Fotografien konstruiert Annekathrin Norrmann rätselhafte Illusionsräume und eröffnet dem Betrachter eine irritierende und geheimnisvolle Welt.
Annekathrin Norrmanns Kunst ist von einer ortsgebundenen Sensibilität. Die Objekte und Installationen entfalten sich in ihrer spezifischen Wirkung immer neu an dem Ort, mit dem sie in Beziehung treten. Alles findet seinen Platz, nachdem die Anordnung auf der Wand erprobt wurde und die einzelnen Bildobjekte mit dem Umraum in Verbindung treten. Wird etwas verändert, wie die Positionierung einzelner Objekte, Lichteinfall oder Betrachterstandpunkt, schwingt die Wirkung um. Neue Beziehungen entstehen und die Aussage des Kunstwerkes wandelt sich. Insofern thematisieren Annekathrin Norrmanns Arbeiten nicht nur den Raum als Ort von Nähe und Ferne, sondern beziehen sich auch auf den Begriff der Zeit. Sie reagieren auf Veränderlichkeiten. Deshalb verbirgt sich in Annekathrin Norrmanns Kunstwerken auch die Beschäftigung mit der Vergänglichkeit.
Annekathrin Norrmanns Kunst ist abstrakt und dinglich zugleich. Abstrakt, weil sich die Künstlerin einer gegenstandslosen Formsprache bedient, in der sie nicht die äußere, sichtbare Wirklichkeit abbildet. Dinglich, weil sie sich von realen Dingen aus ihrer unmittelbaren Umgebung inspirieren lässt, wie beispielsweise der Edelstahloberfläche ihres Kühlschrankes im Wohnhaus in Biberbach, der Lichtbrechung eines transparenten Wasserkanisters, dem Schattenwurf eines Lüsters oder einem braunen Gartenzaun in der Nachbarschaft, auf den sie aus ihrer Werkstatt blickt.
Ist der Betrachter bereit, sich darauf einzulassen, erfährt er Seherlebnisse, die über die „gewohnte“ Wahrnehmung hinausgehen. Darüberhinaus wird er aufgefordert, seinen fest verorteten Standpunkt aufzugeben – und zwar nicht nur im wörtlichen Sinne – und dem Unterschied und dem Verhältnis von Erscheinung und Wirklichkeit nachzuspüren. Letztendlich fordert die Künstlerin den Betrachter heraus, zu begreifen, dass es nicht nur eine einzige mögliche Sichtweise auf die Dinge gibt.
Es geht also nicht nur darum, was wir „wirklich“ sehen, sondern auch darum, was wir in Wirklichkeit nicht sehen.
Visuelle Entdeckungen in der Kunst Exkurs
Immer geht es in der Kunst um visuelle Entdeckungen. Schon in der Antike strebten die Künstler danach, ihre Bilder Schritt für Schritt der Erscheinung der wirklichen Welt anzugleichen. Um das Auge zu täuschen, versuchten sie mithilfe der Malerei eine größtmögliche Ähnlichkeit zu erschaffen.1 Das bis in die Gegenwart am häufigsten zitierte Beispiel ist der Maler Zeuxis von Herakleia im 5. Jahrhundert v. Chr.
Plinius der Ältere (23-79 n. Chr.) berichtet, dass Zeuxis in einem Malerwettstreit Trauben auf einem Wandbild so täuschend echt malte, dass sie von Vögeln angepickt wurden. Aber nicht
Zeuxis, sondern sein Konkurrent Parrhasios ging aus dem Wettstreit als Sieger hervor. Er hatte ein Bild gemalt, dessen Gegenstände von einem Schleier oder Tuch verdeckt waren. Parrhasios hatte das Tuch derart realistisch dargestellt, dass Zeuxis es vom Bild wegziehen wollte, um die Malerei sehen zu können.2 Parrhasios erntete die größere Anerkennung, weil er in der Lage war, das menschliche Auge zu trügen. Zeuxis hingegen konnte nur die Tiere täuschen.
Die mit künstlerischen Mitteln erlangte Errungenschaft größtmöglicher Wirklichkeitsnähe ließ die Künstler nicht mehr los. Die Villen in Pompeji wurden mit illusionistischen Wandgemälden veredelt, um Reichtum zu suggerieren. Um Perspektive und die Kunstfertigkeit des Malers ging es in der Hochrenaissance. Im Barock, als der Illusionismus seinen Höhepunkt fand, entdeckte man die Erschaffung einer zweiten Wirklichkeit in Form des „theatrum sacrum“, des „heiligen Theaters“. Tiefenräumliche Darstellung und die Wiedergabe von Licht und Schatten wurden perfektioniert, so dass sich Trompe l’oeuil- Effekte zur Augentäuschung ergaben.3 In Kirchen und Palästen entstanden aus gemalten Architekturen an Wänden und Decke regelrechte Scheinwelten. Der Italiener Paolo Veronese (1528-1588) war ein Meister der Illusionsmalerei. Er erweiterte die Innenarchitektur mit künstlerischen Mitteln, malte Balkone, Säulen, Gesimse und Landschaftsausblicke an die Wände. Um die Raumillusion möglichst echt wirken zu lassen, ergänzte er die Architektur- Malerei mit lebensgroßen menschlichen Figuren und Tieren. Eines seiner größten Projekte wardieAusstattungderVillaBarbaroinMaserinVenetien.4 DieVerschleifungvon Innenarchitektur mit Malerei sprengte sämtliche visuellen Grenzen. In Schlosssälen und Kirchen löste sich die Decke in eine schwerelose Himmelszone auf und gab den Blick auf Heilige oder den Olymp frei, um herrschaftliche Legitimation und Glaubensinhalte darzustellen. In der Würzburger Residenz stellte Giovanni Battista Tiepolo (1696-1770) in einer luftigen, auf Halbsäulen schwebenden Ovalkuppel die politische Geschichte des Bistums in den Zusammenhang mit Kaiser Friedrich Barbarossas glanzvoller Herrschaft. In der Wieskirche herrscht ein theatralisches Spiel zwischen Architektur, Malerei und hereinströmendem Licht. Eine gemauerte Decke scheint gar nicht zu existieren, denn der Raumeindruck geht direkt in den Himmel über. In den Rand der großen Decke sind Spiegel eingelegt, die das Licht sensibilisieren und im Kirchenraum holen Fenster Landschaft und Wolkenhimmel ins Innere. Das ankommende Licht wird in den Randmulden der Fenster aufgefangen, so dass diese von nuancierter Helligkeit umsäumt werden.5
In der Tafelmalerei eiferte man ebenfalls um die Kunst der Augentäuschung. Die beiden Holländer Adriaen van der Spelt (um 1630-1673) und Frans van Mieris (1635-1681) taten sich 1658 zusammen und malten ein Blumenstilleben, das rechts von einem blauen Vorhang verdeckt ist. Der Stoff mit Falten, Knicken und Schattenwürfen wirkt derart realistisch, dass der Betrachter verführt wird, ihn ähnlich dem Beispiel des antiken Malers Parrhasios, beiseite
zu ziehen.6 Den Übergang von der schöpferischen zur dekorativen Kunst bilden die so genannten „Quod libet“. Dabei handelt es sich um Bilder mit einem plastisch gemalten Arrangement aus unwichtigen Dingen oder alltäglichem Krimskrams, wie abgebrannte Kerzen, Federkiele, Schriftrollen, Kamm und Rasierpinsel. Der Trompe l’oeuil-Effekt sollte den Betrachter überraschen und verblüffen. Grundsätzlich dienten die „Quod libet“ auch dazu, das handwerkliche Können des Malers zu demonstrieren.
Im 19. Jahrhundert verdrängte der Befreiungsgedanke in der Malerei das Ringen um ein
perfektes Abbild der Realität. Die Impressionisten hielten ihre Sinneseindrücke im spontanen,
augenblickshaften Ausdruck fest. Alles was nun zählte, war das persönliche Empfinden in
einem bestimmten Moment.
Erst im 20. Jahrhundert gewann die Kunst der Illusion wieder an Bedeutung, wenn auch mit
neuen Inhalten und Aussagen versehen. Die Surrealisten nutzten eine extrem feinpinselige,
altmeisterliche Malweise für ihre rätselhaften Bildzusammenhänge, in denen es um Träume
und Fantasien des Unterbewussten geht. Im Zuge der Pop Art-Entwicklung bedienten sich
amerikanische Künstler wie Duane Hanson (1925-1996) und George Segal (1924-2000) einer
hyperrealistischen Darstellungsweise, um in skulpturalen Environments auf gesellschaftliche
Probleme hinzuweisen.
Die Schöpfer illusionistischer Malerei verstanden es in technischer Perfektion die Realität vorzutäuschen. Gleichzeitig verbargen sie damit auch ihre Kunst, da diese als solche gar nicht mehr zu erkennen war. Sie gaben nämlich vor, dass die gemalten Objekte tatsächlich existierten.
Die Nachahmung der Wirklichkeit in der Kunst lässt uns nicht nur staunen, weil sie ein Geheimnis lüftet, sondern weckt auch das Wiedererkennen in uns. Im naturalistischen Abbild finden wir die uns vertraute, wirkliche Welt wieder.7 Die Augentäuschung dient in diesem Fall dazu, die Kunst zum leicht verständlichen Abbild der Realität zu machen.
Erlebbare Bildräume
Um Illusion und Augentäuschung geht es auch in Annekathrin Norrmanns Kunst, wenn auch auf andere Art und Weise. Ihre dreidimensionalen Kästen aus Acryl oder Plexiglas, die Installationen mit Spiegeln und Objekten beeinflussen die visuelle Erfahrbarkeit eines Ortes und erzeugen Illusionsräume. Im Unterschied zu den Malern der Renaissance und des Barock strebt Annekathrin Norrmann nicht danach, die tatsächliche Welt abzubilden, sehr wohl nutzt sie aber Licht, Schatten, Materialeigenschaften, Reflexion, Spiegelung, Bewegung für ihre Arbeit. Der Illusionismus dieser Kunst bedarf der Vorstellungskraft und einer Erinnerungsleistung des Betrachters. Das Wiedererkennen von Wirklichkeit, die Verknüpfung von Gewusstem mit Tatsächlichem sind Privilegien des Gedächtnisses, das in der Lage ist, Dinge und ihr Aussehen vor dem geistigen Auge abzurufen.
„Wenn man etwas nicht genau erkennt, muss man ganz genau hinsehen.“ Dieser Satz beschreibt die Essenz von Annekathrin Norrmanns Kunst, die dazu auffordert, hinter die Oberfläche zu schauen und zu hinterfragen, was denn das Innere, das Wesen ausmacht.
Zunächst können wir uns Annekathrin Norrmanns Kunst über ein Foto nähern. Es zeigt den Blick aus ihrem Atelierfenster auf die Fassade des gegenüberliegenden Hauses mit einem braunen Holzzaun. Die Künstlerin hat dieses „Stilleben“ als Ausschnitt fotografiert. (Abb. S. 1)
Die Zaunlatten, die sich in soldatischer Ordnung vor der hellgrauen Fassade abheben, sind rhythmisierendes Ornament. Gleichzeitig sind sie Begrenzung eines unendlichen Raumes, zu dem die herangezoomte helle Wand wird. Mit seiner vertikalen Kleinteiligkeit schafft der Zaun einen optischen Haltepunkt in der Weite der Fläche, die nach oben hin immer heller wird, bis sie sich vollständig in Licht auflöst. Das Mysterium hellen Rauschens breitet sich aus. Gleichzeitig überbrückt der Zaun mit dem horizontal verlaufenden, dunkelgrauen Betonsockel die Distanz zwischen dem hellen Kiesstreifen im Vordergrund und der schieren Unendlichkeit. Das Verblüffende geschieht: Ein Zustand der Schwerelosigkeit und Entmaterialisierung tritt ein.
Mit einem simplen Foto gelingt es Annekathrin Norrmann etwas so unverrückbar Materielles wie eine gemauerte Hauswand in reines Licht aufzulösen. Wir entdecken in dieser banalen Situation, wie man sie überall an bewohnten Orten antreffen kann, eine abstrakte ästhetische Qualität, die sich einer Aufhebung von Zeit und Raum annähert.
Die Balance von lastender Ordnung und luftiger Sphäre des Fotos kehrt in einer
künstlerischen Anordnung wieder. Die vertikalen, kleinteiligen Strukturen des Zaunes und die
Unverrückbarkeit seines Betonsockels wiederholen sich in verdichteter Weise in einem
kleinen Objekt, das die Künstlerin analog dazu geschaffen hat. Die Struktur des Zauns ist um
90 Grad gedreht und verläuft nun vertikal. Im Zusammenklang mit weiteren Objekten in
unterschiedlichen Größen und Formen - einer verschwommenen Fotografie, einem weißen
Bild mit dunklerer Horizontlinie und einem rechteckigen Kunststoffkasten in Gelb mit runder
Vertiefung im Zentrum – entstand eine installative Anordnung an der Wand. Diese
Komposition wiederholt zum einen die Farbigkeit und die Strukturen aus dem Foto, und
beschäftigt sich andererseits mit Nähe und Ferne sowie mit der Auflösung von optischen
Grenzen. (Abb. S. 2)
Das Schattenspiel eines verspielten Deckenlüsters an der Wand, dessen Körper nicht greifbar,
sondern nur mehr in der „Erinnerung“ vorhanden ist, setzt die Künstlerin im Katalog einem
nachtblauen Acrylkasten gegenüber, in dem sich die Tiefe auf der Außenhaut abzeichnet,
ähnlich dem Prozess, der „Gewusstes“ an die Oberfläche des Gedächtnisses befördert. (Abb.
S. 46 und 47).
Manche Objekte erinnern an das Wesen von Collagen, die in Annekathrin Norrmanns Oeuvre
einen großen Stellenwert einnehmen. Eine von unterschiedlichen Materialien (goldglänzende
Metallfolie, eine ehemalige Schnittunterlage aus Pappe) aufgeteilte Fläche zeigt eine
faszinierende Ästhetik. (Abb. S. 14) Ein transparenter Acrylblock offenbart die Strukturen
von gerissenem Papier. (siehe nebenstehende Abb.)
Hinter der Oberfläche
Dreidimenionale, meist quadratische Plexiglasobjekte bilden einen wichtigen Bestandteil in Annekathrin Norrmanns Oeuvre. Es handelt sich bei größeren Formaten um hinten offene Kästen, die im unbearbeiteten Zustand von klarer Transparenz sind. Die Künstlerin rauht ihre Vorderseite und die Seitenwangen auf, so dass sie milchig und opak werden und sich damit ihre ungetrübte Durchsichtigkeit verliert. Anschließend behandelt sie die aufgerauhten Flächen mit feinen Farblasuren. Neuere Arbeiten bestehen aus industriell gefärbtem, teils fluoreszierendem Plexiglas. Auf der (offenen) Rückseite befestigt die Künstlerin eine bemalte Leinwand, ähnlich einem Gemälde. Sie verwendet aber auch Collagen oder andere Dinge, irgendwelche Fundstücke, wie beispielsweise ein Metallgitter (Abb. S. ?).
Handelt es sich um Malerei, so besteht diese in der Regel aus einer monochromen Fläche, die in manchen Fällen horizontal oder vertikal unterteilt ist. Bisweilen lässt die Malfläche einen Durchblick auf die Wand zu, die im Gesamteindruck als Farbfläche präsent ist. Manchmal ersetzt Annekathrin Norrmann das Gemälde auf der Rückseite durch einen Spiegel, der in einigen Fällen zusätzlich von einem runden, konkaven Spiegel durchbrochen ist (Abb. S. ?). Aufgrund der opaken, dunklen oder reflektierenden Oberfläche ist für den Betrachter meist nicht deutlich zu erkennen, was sich im Inneren des Kastens befindet. Die Künstlerin lässt ihn darüber im Unklaren.
Das Zusammenspiel von Außen und Innen fordert den Blick. Mehrere Schichten aus Farbe, Spiegelung, Reflexion und dem dazwischenliegenden leeren Luftraum legen sich im Auge des Betrachters übereinander. Es ergibt sich ein diffuser schleierartiger Effekt. Dieser Schleier bildet zugleich eine Grenze und einen optischen Durchgang. Er ist einerseits durchscheinend, andererseits färbt er den wahrgenommenen Raum. Von diesem lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob er leer, oder, da von Farblicht erfüllt, voll ist.8
Aufgrund ihrer Dreidimensionalität sind die Acrylkästen sowohl Hohlräume als auch immaterielle, das heißt nicht greifbare, farbige Bildräume. Der Kunsttheoretiker und Kunsthistoriker Prof. Johannes Meinhardt fand dafür die Bezeichnung „Pikturaler Bildraum“.9
Durch das Zusammenwirken von Luft und Farbschichten reizt Annekathrin Norrmann die
Möglichkeiten aus, mehr Raum zu gewinnen, als für das menschliche Auge fassbar ist.
Sie stellt Raum dar, der ins Unendliche geht.
Je nach Tageszeit und Lichteinfall changieren die Bildflächen heller und dunkler, wirken
flacher oder tiefer und verändern ihre Wirkung mit dem Betrachterstandpunkt.
Die Bildobjekte reagieren auf ihre Umgebung.
Die Farben mit denen Annekathrin Norrmann experimentiert, sind fein nuanciert. Eine lange
experimentelle Phase geht dem Ergebnis voraus, denn aufgrund der atmosphärisch-farblichen
Mischung, die sich aus den Schichten von Oberfläche und Tiefe ergibt, verändern die Farben
ihre Wertigkeiten und Sättigungsgrade. Montiert die Künstlerin statt einer bemalten Leinwand
einen Spiegel auf der Rückseite des Kastens, steigert sie die Wirkung. In diesem Fall geht es
um das Umschlagen von materiellen Qualitäten der eingesetzten Materialien in eine weitere,
optische Dimension.
Die Kästen stehen in der Fortentwicklung der Farbfeldmalerei. „Color Field Painting“, wie diese Art der abstrakten Malerei auch bezeichnet wird, hat sich in den 1940er und 1950er Jahren in den USA entwickelt und gilt seit der Nachkriegszeit als bedeutende internationale Kunstströmung. Sie steht für ein radikales Hinterfragen der traditionellen Bildauffassung und lehnt die herkömmliche Abbildfunktion der Malerei ab. Ausschließlicher Bildinhalt ist die Farbe in der Gesamtheit ihrer Eigenschaften und Qualitäten. Sie wird zur reinen Ausdrucksform. Im Malprozess wird die individuelle Handschrift des Künstlers bewusst unterdrückt. Das meist sehr große, das Blickfeld überschreitende Bildformat zwingt den Betrachter zu einer veränderten Wahrnehmung.
Im Gegensatz zur zweidimensionalen, auf Leinwand ausgeführten Farbfeldmalerei erschafft Annekathrin Norrmann mit ihren Acrylkästen einen mit Farblicht gefüllten, gerahmten Raum.
Durch die optische Verdoppelung an den Kanten entsteht ein dunklerer Farbsaum, der als Rahmen fungiert. Dieser gerahmte Raum ist mit einem Bühnenraum vergleichbar, in dem Licht unabdingbarer Bestandteil ist.10 Auch dieser Aspekt in Annekathrin Norrmanns Kunst steht im Kontext zur Geschichte, denn erst das Licht als Grundlage aller visuellen Wahrnehmung macht die äußere Form sichtbar.
Den „Schleier“, den die Qualität der Oberfläche erzeugt, bezeichnet Johannes Meinhardt als eine präzise Metapher fürs Theater, in dem die Schichtung des Bühnenraumes durch Schleier und querlaufende farbige Lichtbahnen eine große Rolle spielt. Auf diese Weise wird der Raum in verschiedene Ebenen gestaffelt und gewinnt eine besondere optische Tiefe. Im Falle Annekathrin Norrmanns sind es Farbe und Licht, die sich im Raum als Wand oder Schicht verkörpern, als bildeten sie eine Haut oder Atmosphäre.11 Die Staffelung der Farbschleier erzeugt einen Farbraum, der immateriell ist, weil er leer und körperlos ist. Deshalb erscheint er als kaum fassbar. Zugleich handelt es sich aber um einen aus dem allgemeinen Raum ausgegrenzten, begrenzten und lichtdurchlässigen Hohlraum. Da er mit farbigem Licht gefüllt ist, bildet er eine Art von wörtlichem Bildraum, der zwar materiell vorhanden ist, aber als rein visueller, eben „pikturaler“ Raum, wahrgenommen wird.12 Je nach Situation umfängt der Farbschleier das Objekt wie eine Aura.
Die gelb-fluoreszierende Box auf Seite 11 gibt ebensolche Rätsel auf. Wo ist vorne, wo ist hinten? Wie tief und wie groß ist sie eigentlich? Die gedoppelten Kanten geben dem optisch grünen Quadrat der Abbildung zwar einen Rahmen vor, doch bildet sich durch die signalhafte Leuchtwirkung an der weißen Wand ein „Lichthof“, der das Objekt größer wirken lässt (Abb. S. ?).
In der Arbeit auf Seite 34 sieht sich der Betrachter einem physischen Akt durchlichteter Materie gegenüber. Er steht vor einer perlmuttschimmernden, durchpulsten Fläche aus Grau-, Weiß- und Rosatönen, die in permanenter Bewegung zu sein scheint. Es handelt sich um eine Symphonie in Weiß, einen Balanceakt von Schönheit und Eleganz, aus deren Innerstem verborgene Glut leuchtet, ohne das Geheimnis zu lüften, woher diese Kraft kommt. (Abb. S. 34)
Nicht nur innere Schönheit, sondern auch Existenzielles offenbart sich im Zusammenklang von Farben und Formen: Die Komposition aus zwei Objekten legt den Gedanken an die Bipolarität der Dinge nahe. (Abb. S. 26) Eine rechteckige Plexiglasbox in hellem Rosa und ein unregelmäßig konturiertes in dunklem Braun gehaltenes und von einem schwarzen Saum hinterfangenes Stück Pappe erinnern in ihrem unmittelbaren Gegenüber an sich gegenseitig bedingende Prinzipien wie Helligkeit und Dunkel, Stärke und Schwäche, Schwere und Leichtigkeit. Die Assoziation an kraftvoll aufstrebende Männlichkeit und empfindsame Weiblichkeit drängt sich auf. Wie die quadratischen Acrylkästen verändern auch diese Objekte ihre Ausstrahlung mit den Gegebenheiten der Umgebung. Ein vergleichbares Schauspiel bietet nur die Natur im Lauf des Tages und im Wechsel der Jahreszeiten.
Bei all diesen kompositorischen Überlegungen spielen auch die optisch-haptischen Wirkungen des Materials eine wichtige Rolle. Es geht um Eigenschaften wie Rauheit und Glätte, Transparenz und Transluzenz, Härte und Weichheit, sowie optische Rhythmisierung durch Riffelung. Diese Materialqualitäten und technischen Verfahren setzt Annekahtrin Norrmann nicht im Sinne einer bestimmten künstlerischen Absicht schöpferisch ein, sondern bleibt in ihrer Stellungnahme als Künstlerin neutral. Sie vermeidet jegliche künstlerische Kontrolle über ihre Kunstwerke.13 Eine psychische oder emotionale Interpretation lehnt sie ab. Dafür spricht auch, dass sie auf Werktitel verzichtet. Es ist allein Sache des Betrachters, aus dem Bildobjekt einen individuellen Klang herauszuhören.14
Alice hinter den Spiegeln
Die Arbeiten von Annekathrin Norrmann sind nicht mit Bedeutungsgehalt aufgeladen. Sie
sind reine Erscheinung, situationsabhängig und alles andere als autonom.
Für die Bedingtheit von Annekathrin Norrmanns Kunst spricht die Verwendung großer
Spiegel, die möglichst viel Raum zeigen, optisch den Raum öffnen und sich mit dem Raum
vermählen. Sie bevorzugt Kunsstoffglas, da dieses „lebendiger“ ist als richtiges Glas. Mit
seiner planen Oberfläche bildet echtes Glas die Wirklichkeit Eins zu Eins ab.
Durch Verzerrungen und Unebenheiten bricht die Kunststofffläche das Spiegelbild optisch
und stellt damit die Reflexion, sprich die Wirklichkeit, in Frage. Sie entgrenzt den Raum und
lässt eine zweite Realitätsebene entstehen, in der der Betrachter selbst zum Bestandteil des
Kunstwerkes wird.
In raumeingreifenden Installationen (Abb. S. 17) nutzt Annekathrin Norrmann die
Gelegenheit sich selbst zu zitieren und schafft damit eine Augentäuschung im Sinne eines
„Trompe l’oeuil“. Der von ihr erschaffene Körper bezieht sich einerseits auf die Umgebung,
die er widerspiegelt. Gleichzeitig wird er durch die verzerrte Wiedergabe der Objekte zum
neuen Raum im Raum. Annekathrin Norrmann bezeichnet ihn als „Sehnsuchtsraum“.
Im Triptychon (Abb. S. ...) ist es das Spiel mit dem tausendfach reflektierten Licht und den sich vielfach brechenden Abbildern der Umgebung, das den Betrachter gefangen nimmt. Um nicht seinem Spiegelbild gegenüber zu stehen, muss er einen ganz bestimmten Standpunkt wählen.
Die Künstlerin zitiert und ironisiert hier die symbolbehaftete Darstellungsform. In seiner ursprünglichen Form ist das Triptychon dreiflügeliges Altarbild, in dem sich biblische Darstellung mit Glaube und Spiritualität verbindet. Als Kompositionsform hat es sich über die Jahrhunderte bis in die Kunst der Klassischen Moderne und der Gegenwart behauptet. Expressionisten wie Max Beckmann und Otto Dix schätzten seinen Gehalt an Würde und Pathos.
Als dreiteiliger Flügel- oder Wandelaltar kann das Triptychon geschlossen werden und bietet dank beweglicher Seitenflügel dem Kirchenbesucher an Werktagen und Sonn- oder kirchlichen Festtagen wechselnde Ansichten. Auch Annekathrin Norrmanns „Spiegelaltar“ ist verschließbar. Die Innenseiten sind hell verspiegelt, die Außenseiten der Flügel sind glänzend schwarz. Sie legen über das Spiegelbild einen dunklen Schleier. Je nachdem, in welchem Winkel man die Seitenflügel öffnet, reflektiert sich die Umgebung durch die beiden dicht gegenüberliegenden Spiegel in einer Vielfalt von Bildern, die sich in schier grenzenlosen Wiederholungen staffeln und brechen. Durch den Rahmen ist der Ausschnitt auf eine bestimmte Zone begrenzt. Die vervielfältigten „Bilder“ werden durch die schwarzen Rahmenleisten zerschnitten und gekippt. Dadurch entsteht in der Binnenzone des „Altares“ eine unruhige, von harten Linien und Geraden gegliederte Zone. Der Betrachter fühlt sich von den gebrochenen, sich optisch überlagernden Spiegelbildern angezogen, andererseits wird er auch dem Gefühl der Instabilität ausgesetzt.
Der Spiegel wird seit seiner Erfindung mit vielerlei Bedeutungen in Zusammenhang gebracht. Im Sterbezimmer verhängte man ihn mit einem Tuch, um dem Toten den Übergang in eine andere Welt zu erleichtern. Der Spiegel kann sowohl Symbol sein für Keuschheit und Vergänglichkeit als auch für Sinnenfreude und Eitelkeit. Er fängt das Licht in unterschiedlicher Intensität ein, man kann sich selbst darin sehen, oder andere Dinge oder Personen fokussieren. Bekanntes erscheint auf andere Weise und in neuer Perspektive. Früher glaubten die Menschen, dass sie beim Betrachten ihres Spiegelbildes ihre Seele verlieren.
Während ein einzelner Spiegel nur einen begrenzten Ausschnitt abbildet, erfasst das
Triptychon einen weitaus größerer Bereich. Durch die Überschneidung der Spiegelbilder
gerät die Realität in Bewegung, durch den extremen Wechsel von Nähe und Ferne entsteht die
Illusion von Unendlichkeit. Der Spiegel liefert einerseits die Bestätigung von Existentem und
bildet andererseits eine Pseudorealität ab. In Annekathrin Norrmanns Kunstwerk verschleifen
sich beide Ebenen, auch im Zusammenhang mit dem „Gewussten“ im Gedächtnis des
Betrachters. Die Ordnung von Raum und Zeit wird aufgehoben.
Der Dachauer Journalist Wolfgang Eitler zieht in einem Katalogvorwort einen Vergleich
zwischen Annekathrin Norrmanns verspiegelten Raumobjekten und einem Gemälde des
spanischen Malers Velázquez.15 Dessen Gemälde „Die Hoffräulein“, spanisch „Las Meninas“,
von 1656 zeigt einen Raum im Alcazar von Madrid, der Residenz Philipp IV. von Spanien.16
Velázquez hat sich selbst ins Bild gemalt. Er steht etwas abseits von den übrigen Personen
und arbeitet an einem großen Gemälde. Sein Blick richtet sich direkt auf den Betrachter.
Hinter dem Maler hängt ein Spiegel an der Wand, der die Oberkörper von König und Königin
reflektiert. Deren genauere Verortung lässt Velázquez im Unklaren. Es gibt zwei
Möglichkeiten, wo sich das königliche Ehepaar befinden könnte. Entweder steht es außerhalb
der anwesenden Gruppe, im Sinne von Zuschauern, oder der Spiegel reflektiert lediglich das
Gemälde, an dem Velázquez gerade malt. Der Spiegel dient also zur Verrätselung der
Realität. Indem Velázquez den Zuschauer fixiert, entwickelt sich ein kompliziertes System
von Beziehungen, das den Betrachter in den Bildablauf einbezieht und ihn ebenfalls zum
(unsichtbaren) Bestandteil des Bildes macht.17Wolfgang Eitler hat das Bild „Die Hoffräulein“ auf Annekathrin Norrmanns Rolle als
Künstlerin bezogen. Wenn sie ihre Installationen fotografiert, ist sie auf der reflektierenden
Oberfläche zu sehen. Dieses Beziehungsgeflecht wird in Annekathrin Norrmanns
Kunstwerken gewissermaßen „gedoppelt“. Nicht nur die Künstlerin tritt über ihre Arbeit in
Kontakt zum Betrachter, sondern der sich im Spiegelbild erkennende Betrachter wird zum
unmittelbaren Bestandteil dieser zweiten Realität.
Annekathrin Norrmann fordert den Betrachter auf, die Distanz zwischen sich, dem Kunstwerk und der Künstlerin aufzugeben und sich einzig und allein der Wahrnehmung hinzugeben.18 Wenn dies geschieht, öffnet sich ihr Kunstwerk aus der Gesamtsumme sinnlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten19 wie eine Tür in eine zweite, hinter der Realität liegende Welt, in die man ähnlich wie im Märchen „Alice hinter den Spiegeln“ des viktorianischen Autors Lewis Carroll (1832-1898) eintauchen kann.
Fundsachen
Die Collage, in der durch das Zusammenfügen und Aufkleben unterschiedlich geformter Teile ein neues Ganzes entsteht, ist für Annekathrin Norrmann ein wesentlicher Ansatz und Ausgangspunkt in ihrer Kunst. Zuerst waren ihre Collagen aufs kleine Format beschränkt, später wuchsen sie ins Monumentale.20 Jetzt sind die Fundstücke nicht mehr ins Bild integriert, sondern haben sich als eigenständige Objekte emanzipiert.
In den Kleinobjekten kumuliert sich dieser Gedanke. Die Künstlerin verfremdet alte
Schallplatten und entreißt sie damit ihrem ursächlichen Zusammenhang. Als „Objet trouvé“ -
ein Begriff aus dem Surrealismus für Fundsachen, die durch künstlerischen Eingriff zum
Kunstwerk werden -, bezeichnen sie die skulpturale Erweiterung der Collage. Die
Materialqualitäten der Schallplatte mit ihren unterschiedlich glänzenden Rillen spielen dabei
eine Rolle. Indem die Künstlerin die Oberfläche des flachen Körpers mit Farbe besprüht,
bringt sie den Gedanken der Zweidimensionalität ins Spiel – als Illusion, die auf einem realen
Objekt erscheint. Auch hier spielt sie mit zwei Wirklichkeitsebenen.
Die kreisrunde Form der Schallplatte ist nicht nur Ausdrucksmittel der Konkreten Kunst, die
auf mathematisch-geometrischen Grundlagen beruht, sondern auch Metapher für das Ewige
und Vollkommene. Ihre tiefschwarze Farbe ist Symbol für das Geheimnisvolles, Mystische,
Mächtige und Unerklärliche. Indem Annekathrin Norrmann die absolut perfekte und
unergründlich tiefe Fläche golden übersprüht und nur einen Teil der originalen Platte offen
lässt, stellt sie diese Aspekte in Frage. (Abb. S. 9)
Ein Rundspiegel vom Flohmarkt, ähnlich in Größe einer Schallplatte, wurde schwarz
übersprüht, die spiegelnde Aussparung durchbricht die dunkle Fläche wie ein horizontaler
Riss. Der Querriss hat vertikale Ausläufer. Er bricht das perfekte Rund nicht nur empfindlich
auf, sondern dringt optisch sowohl nach hinten als auch nach vorne in den Raum ein. Damit
wirft das Objekt Fragen nach dem Substanziellen, nach Oberfläche und Tiefe auf. Durch die
Verspiegelung werden nicht nur Teile des Umgebungsraumes, sondern auch der Betrachter
zum Bestandteil dieser irritierenden optisch-haptischen Störung.
Eine Ateliersituation von 2007 beschäftigt sich mit ähnlichen Aspekten. (Abb. S. 12) Es handelt sich um eine fast raumhohe, an der Wand hängende dunkle Bahn und um die vergrößerte Fotografie einer Spiegelung. Die hellen Lichtreflexe auf der Bildfläche lassen diesen Schluss zu. Dargestellt ist der Blick auf eine steile Holztreppe, als stiller, wenig einladender Ausschnitt, verschattet und unscharf. Die Bahn liegt auf dem Boden auf, rollt sich dort ein und ragt etwas in den Raum hinein. Sie bildet einen Illusionsraum, indem sie eine Öffnung vorgaukelt und die Wand in den Raum hinein erweitert. Ein bearbeiteter Acrylkasten, der daneben hängt, greift die erdige Farbigkeit und die Unschärfen auf. Zwischen den beiden Objekten hängt ein kleines Bild. Es fungiert als Verbindungsglied vom vorgetäuschten Illusionsraum der Fotobahn zum tatsächlichen Illusionsraum des Acrylkastens und vereinigt das Arrangement zur Objekt-Raum-Installation. Es offenbart sich ein spannungsgeladenes Spiel von Realität und Fiktion. Was wirkt echter? Das verschleierte zweidimensionale Foto von der in die Höhe führenden Treppe oder die dreidimensionale Plexiglasbox, die den Stimmungsgehalt dieses schemenhaften Nichtraumes aufgreift und den Ort auf andere Weise verschleiert?
Es sind dies skulpturhafte Farb-Raum-Gebilde, die Illusion vermitteln und Innenarchitektur sprengen.21
Geometrisch konstruierte Wandobjekte, wie Keile oder Pylone gestaltet, sind dreidimensionale Malerei, die in den Raum eingreift. Auch sie bezeichnen das Wechselspiel von unterschiedlichen Ebenen.22 (Abb. S.)
Annekathrin Norrman spricht mit ihrer Kunst den Begriff der Mimesis an, nicht im Sinne von Nachahmung, sondern als Hinterfragen von Ähnlichkeiten oder sogar Übereinstimmung zwischen realer und fiktiver Welt. Der antike Begriff der „Mimesis“ geht auf Aristoteles zurück. Demnach sollte sich der Mensch im antiken griechischen Theater in die Handlung der Tragödie einfühlen und die Gefühle der Figuren wie Furcht und Mitleid nachempfinden. Laut Aristoteles wurde er dadurch von vergleichbaren eigenen Gefühlen geläutert.
Auch Annekathrin Norrmann läutert, obwohl sie keine Erzählerin ist. Durch die Verschleierung und Illusionierung der Wirklichkeit bietet sie dem Betrachter die Möglichkeit, sich (ähnlich wie im Theater) sinnlich auf ihre Kunst einzulassen, auf die Wirkung ihrer Kunst als auratisches Erlebnis. Sie gibt dem Betrachter jedoch nur das Werkzeug mit auf den Weg, damit er sich aus eigener Kraft auf eine imaginäre Erzählreise begibt. Nicht, um Vorgegebenes zu konsumieren, sondern um den eigenen Standpunkt zu hinterfragen, ihn gegebenfalls neu zu finden und zu definieren.
Die Frage des freien Willens
In Annekathrin Norrmanns Kunst geht es um Raumerweiterung und Augentäuschung. Sie schafft einen realen Bildraum, ohne konkret abzubilden. Anstelle einer vorgetäuschten Realität, eine künstlerische Fiktion zu liefern, weisen uns Annekathrin Norrmanns Arbeiten darauf hin, was wir sehen und erleben, modifiziert durch das faszinierende Spiel der sich im Licht wandelnden Farben und Tonwerte und der sich verändernden Perspektiven. Annekathrin Norrmann versteht es, ein Seherlebnis zu erzeugen und gleichzeitig Erinnerungen wachzurufen. Im Gegensatz zu den Naturalisten und Realisten bricht sie mit den gewöhnlichen Sehgewohnheiten und spricht das Unterbewusste und Tiefgründige an. Sie spielt mit visuellen Ereignissen, wie wir sie aus unserer Begegnung mit der Realität kennen. Sie reizt die Wahrnehmung, den visuellen Sinn, indem sie sowohl das „unschuldige Auge“ als auch die Erinnerung des Betrachters anspricht. Das heißt, alles, was wir in ihren Werken in einem neuen Zusammenhang sehen, oder zu sehen glauben, ist „gewusst“ und kann nur aus diesem Vermögen heraus erfahren werden.
Darüberhinaus sucht sie im Zusammenklang aus der Anordnung von Farben und Formen nach einer wertfreien Schönheit. Die Plexiglaskästen entfalten aus der Verbindung von Farbe, Licht und Materialität eine aus der Kraft der Tiefe sich speisende Intensität, die sich mit einer unglaublichen Leichtigkeit vereinigt.
Annekathrin Norrmann schafft eine Kunst der metaphysischen Räume. Sie ergründet
Beziehungen und Wirkungen zwischen Ort, Kunstwerk und Betrachter, indem sie radikalisiert
und nach der reinen Existenz strebt: durch die Reduktion des Bildgeschehens aufs visuelle
Phänomen der Farbe, auf die Beschränkung elementarer Formen, die keinerlei Ablenkung
zulassen, und aufs Erkunden des Raumes bis zur Grenze der Sichtbarkeit.
Die Künstlerin lehnt jegliche künstlerische „Herrschaft“ über Kunstwerk und Betrachter ab,
indem sie die malerische Geste weitestgehend vermeidet. Der einzige Hinweis auf eine
künstlerische Handschrift lässt sich auf der manuell behandelten Oberfläche ihrer Acrylkästen
ablesen.
Annekathrin Norrmann verknüpft diese Erkenntnisse mit der Absage an die traditionellen
Malerei und deren „Kleben“ am Naturvorbild. Die Acrylkästen haben mit der herkömmlichen
Vorstellung vom gerahmten Tafelbild nichts mehr gemein. Sie überschreiten die Grenze zur
Skulptur, gehen von der materiellen Kunst in eine diffuse, in den Raum ausstrahlende Licht-
Erscheinung über. Insofern spricht die Künstlerin das nicht greifbare „Überexistenzielle“,
wenn man so will, auch das Spirituelle, an.
Annekathrin Norrmanns Kunstwerke sind reine Erscheinung. Sie geben dem Betrachter nichts vor, andererseits liefern sie ihm auch keine Antworten. Er kann sich aus eigenem, freiem Willen darauf einlassen. Annekathrin Norrmanns Erklärung lautet: „Ich möchte keine Etiketten vergeben.“
Darüber hinaus kann der Betrachter seine subjektiven Sinneseindrücke steuern, indem er seine Position verändert. Es bleibt ihm frei gestellt, seinen Stimmungen nachzuspüren, indem er das Kunstwerk zu verschiedenen Tageszeiten betrachtet. Aufgrund dieser Qualitäten unterliegt es vorgegebenen Veränderungen und hinterfrägt jedesmal sein Verhältnis zur Umgebung. Dieser Aspekt in Annekathrin Norrmanns Kunstbegriff bedeutet nicht nur einen Akt der Befreiung der Kunst von jeglicher Autorschaft, sondern auch eine Herausforderung an den Betrachter, sich immer wieder aufs Neue mit dem Werk auseinanderzusetzen. Verweigert er sich, bleibt ihm die Botschaft vorenthalten.
Kritisch betrachtet ist zu hinterfragen, wie in diesem Fall die Rolle der Künstlerin als Autorin
zu bewerten ist.
Kunstwerke, die frei sind von der erkennbaren Handschrift des Künstlers laufen Gefahr, den
schützenden Bereich der Kunst zu verlassen, mit banalen Gegenständen verwechselt zu
werden, im Extremfall nicht als Kunstwerk wahrgenommen zu werden. An diesem Punkt
setzt Annekathrin Norrmann an. Ihre Vorgehensweise "Erhaben-Kunstvolles" und
"Lapidares" zu verknüpfen und in die jeweilige Raumsituation einzubinden, hat durchaus
subversive Qualitäten. Grenzen werden verwischt und die Frage, wo Kunst anfängt oder
aufhört ist nicht mehr so leicht zu beantworten. Die Arbeiten sind nicht fest umrissene,
absolut zu betrachtende Kunstwerke mit autonomem Anspruch, sondern ambivalente
Bildobjekte, die nach dem Willen des Kunstliebhabers im Raum neu vernetzt werden können.
Die Arbeiten werden individualisiert, Mimikry ist Teil ihrer künstlerischen Strategie. Die
Rolle der Künstlerin erweitert sich somit auf die Rolle der Autorin, Drahtzieherin,
Spielleiterin. Das nicht dauerhaft Festlegbare ist der eigentliche Gegenstand ihrer Kunst. Das
„Kunststück“ ist ein offenes System, das dazu einlädt, hinter die Oberfläche zu blicken, sich
darin zu versenken, darin einzutauchen.
1 Ernst Gombrich, Bild und Auge, Stuttgart 1984, S. 11.
2 Plinius berichtet in der „Naturalis Historiae“, einer der wichtigsten Quellen zur antiken Kunstgeschichte: „Zeuxis malte im Wettstreit mit Parrhasius so naturgetreue Trauben, dass Vögel herbeiflogen, um an ihnen zu picken. Daraufhin stellte Parrhasius seinem Rivalen ein Gemälde vor, auf dem ein leinener Vorhang zu sehen war. Als Zeuxis ungeduldig bat, diesen doch endlich beiseite zu schieben, um das sich vermeintlich dahinter befindliche Bild zu betrachten, hatte Parrhasius den Sieg sicher, da er es geschafft hatte, Zeuxis zu täuschen. Der Vorhang war nämlich gemalt." (Plinius, Nat. Hist. XXXV, 64)
3 Josef Mayer, Das getäuschte Auge, in: Der Maler und Lackierermeister, Bd. 12, 2009, S. 12- 16.4 Eckhard Hollmann, Jürgen Tesch, Die Kunst der Augentäuschung, München 2004, S. 30.5 Norbert Lieb, Barockkirchen zwischen Donau und Alpen, München 1984, S. 126 f.
6 Ebd., S. 22.7 Ernst Gombrich, Bild und Auge, S. 12.
8 Johannes Meinhardt, Pikturaler Bildraum, Die Bildkörper von Annekathrin Norrmann, in:
Katalogtext zur Ausstellung in der Galerie Kampl 2003, S. 6.9 Johannes Meinhardt, Pikturaler Bildraum, Die Bildkörper von Annekathrin Norrmann, in:
Katalogtext zur Ausstellung in der Galerie Kampl 2003, S. 6.
10 Ebd., S. 7.11 Johannes Meinhardt, Pikturaler Bildraum, Die Bildkörper von Annekathrin Norrmann, in:
Katalogtext zur Ausstellung in der Galerie Kampl 2003, S. 7.12 Johannes Meinhardt, Pikturaler Bildraum, Die Bildkörper von Annekathrin Norrmann, in:
Katalogtext zur Ausstellung in der Galerie Kampl 2003, S. 7.
13 Ebd., S. 7.14 Detlef Bluemler, Gestaltendes Kalkül und Emotion in der Waage. Zur Arbeit von
Annekathrin Norrmann. Text zur Ausstellung „Raumbilder – Bildräume“ von Elisabeth
Heindl und Annekathrin Norrmann in der Galerie der KVD vom 19. Oktober bis 5. November
1989
15 Wolfgang Eitler, Vorwort zu „Simulationen“, o.O, o.J., S. 2.16 Im Mittelpunkt mehrerer Hoffräulein, Wächter und Zwerge befindet sich die kleine
Königstochter Margarita.17 Ebd., S. 2.18 Ebd., S. 3.
19 Detlef Bluemler, Gestaltendes Kalkül und Emotion in der Waage. Zur Arbeit von
Annekathrin Norrmann. Text zur Ausstellung „Raumbilder – Bildräume“ von Elisabeth
Heindl und Annekathrin Norrmann in der Galerie der KVD vom 19. Oktober bis 5. November
1989.
20 Elisabeth Boser, Katalogtext zur Ausstellung „Projekt Scheierlmühle“ anlässlich der
Eröffnung des Büroturmes auf dem Gelände der alten Scheierlmühle in Dachau, Herbst 1999,
S. 3.
21 Ebd., S. 2.22 Elisabeth Boser , Katalogtext zur Ausstellung „Projekt Scheierlmühle“ anlässlich der
Eröffnung des Büroturmes auf dem Gelände der alten Scheierlmühle in Dachau, Herbst 1999,
S. 3.